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Ihr kennt das: dieser Spleen, im Jahresmittel 100 Bücher zu lesen. Also quält ihr Euch durch Paolo Coello, durch Elizabeth Gilbert, vielleicht macht ihr bei einer dämlichen Reading-Challenge mit und lest sogar depperten Romantasy-Schnulz, Hauptsache, es geht zackig. Bis ihr auf irgendwas von John Green stößt. Und hängen bleibt.

So ist das nämlich auch mit Greens neuestem Buch, Turtles All the Way Down. Was hab ich gefiebert, was hab ich Tränen in den Augen gehabt! Wem’s wichtig ist, der bekommt hier die notwendigen Content Warnungen, und kann selbst entscheiden, ob Weiterlesen grad geht oder vertagt wird.

Turtles All the Way Down handelt nämlich, so die Plot Summary bei Wikipedia, schon irgendwie zentral von all den verschiedenen Angststörungen, die Aza Holmes, die 16-jährige Protagonistin, so mit sich rumträgt. Spoiler alert: es geht wirklich nur am Rande um die Jagd nach einem verschollenen kriminellen Fuzzi. Die Suche nach ihm wird erwähnt, bleibt aber lediglich eine rahmende Randhandlung. Weil in Echt geht’s darum, was da alles so abgeht, in Azas Kopf. Und das ist nicht wenig. Ihre Gedanken drehen sich spiralartig, und ich bin spießig, aber irgendwann war der ein oder andere Joint für mich auch eher semi-nice, mir schwummerte sich alles, und ich hatte Angst, dieser Zustand würde sich in mein Hirn einfressen und nie mehr aufhören. Bei Aza ist so ungefähr das passiert, nur eben ohne dass irgendwelche Drogen dafür den Anlass böten.

Aber da schluckt sie, nachdem sie einen Autounfall hatte und mit verletzter Leber im Krankenhaus liegt (John Green hat irgendwie ein Faible für zerdepperte Karren) Desinfektionsmittel, weil die Stimme in ihren Kopf ihr das befiehlt, weil andernfalls wären da all diese Bakterien in ihr drin, die sie infizieren und ganz gewiss umbringen würden. Also Desinfektionsmittel, nur einen Schluck. Und noch einen. Bis sie umkippt.

So ungefähr drehen sich Azas Gedanken, aber am Ende ist alles irgendwie okay-ish, aber so ganz klar ist nicht, wie’s mit ihr weiter geht, ob lediglich die Hoffnung aus ihr spricht oder ob es ihr vielleicht doch besser geht. Klar ist aber: diese Angststörung wird Aza nicht los, nie mehr, nicht als Studentin, auch als Mutter nicht, sie wird nur mal weniger, aber niemals verschwinden.

Warum, kann man fragen, liest man das? Es gäbe doch seichtere Alternativen, die oben erwähnte Verschmelzung von Romantik und Fantasy zum Beispiel. Darf man „Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken“  ohne Triggerwarnung unter den Weihnachtsbaum, bzw., da es ja bereits januart, ins Osterkörbchen packen, oder ist’s insgesamt eher ein Eisbein-Buch: eins, dessen Genuss fragwürdig und auf alle Fälle schwer verdaulich ist? Ja, Turtles All the Way Down ist eines dieser sad teen books, aber dabei ist es verdammt nochmal eben auch: wichtig. Green übernimmt es, was unsere Freundin, Verwandte, unser Bruder oder bester Kumpel vielleicht nicht können: uns erklären, wie ihre Angststörung sie beeinflusst, hindert, zerfrisst. Eben weil diese Ängste so zerfressend sind, oder weil toxische Männlichkeit Typen dazu verleitet, den starken Mann markieren zu wollen, weswegen sie sich lieber die Hand abhacken würden, als über ihr seelisches Innen zu sprechen. John Green leistet ihnen Hilfestellung, ist Sprachmittler zwischen Angehörigen und denjenigen, die an psychischen Störungen leiden. Sag ich so, bin mir aber bewusst, dass ich das aus einem privilegierten Außen heraus tue. Und vielleicht also Unrecht habe, weil die reale Angst eben doch nicht so romantisch und wunderbar erzählbar ist wie die bei John Green.

Und doch ist Greens Buch auf irgendwie fruchtbaren Boden gefallen; ich habe nur langsam lesen wollen, um Azas Gegenwart zu prolongieren, habe in kleinen Häppchen gelesen und das Buch doch verschlungen. Und – und hier ist der Unterschied zu den sonstigen Sachen, die ich im Versuch, die 100 pro Jahr voll zu kriegen, so wegkonsumiere: von Aza und Davis habe ich geträumt, habe sie, auch wenn das Buch grad weg war, doch gedanklich dabei gehabt. Weil: so schreibt Green. Packend und packend und packend. Eine durchaus angenehme Manifestation eines Lese-Spleens.

 

Ein Kommentar zu “Ein Eisbein-Buch: John Greens neuer Roman

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